Von weitem wirkt die Stadt durchaus lebensfeindlich. Armeen aus Beton, in strammer Haltung aufgereiht. Überfüllte U-Bahnen, Stau an allen Ecken und Enden, eine Armut auf Kartonpappen und Malerteppichen an Ampelkreuzungen, die zum Himmel schreit. Man kann sich nicht vorstellen, hier irgendeinen glücklichen Menschen zu treffen.
São Paulo könnte so trist sein. Wenn nicht seine Menschen wären. Mittelstreifen auf vierspurigen Hauptstraßen werden durch puren Willen zu Joggingpromenaden, Unterführungen zu Galerien, Shoppingcenter zu Freizeitparks, alles, was kleiner als Kniehöhe ist, ist die Möglichkeit eines Balls.
Stetig wächst die Stadt über sich hinaus, frisst sich auf und entwickelt neue Formen der (Lebens-)Kunst. Die Architekten überbieten sich mit immer neuen, waghalsigeren Bauten, innerhalb eines Straßenzugs kann man einen Gang durch zweihundert Jahre Architektur machen. Alles wird eng und enger, die Stadt schießt nach oben und flutet die Straßen. Kulturen werden komprimiert, aneinandergedrängt, Leben wie unter dem Brennglas.
Im Parque Anhangabaú stehen die Palmen Spalier. Rechts auf einem seichten Hügel liegt das altehrwürdige Teatro Municipal, darum herum Skyline, eine riesige Brücke geradeaus. Wallendes, fruchtbares Grün dominiert die Fläche, beinahe fühlt man sich in einem alpinen Tal. An den Seiten der Promenade stehen Betonbänke, die weniger dem Sitzen als dem Skaten dienen, Menschen machen es sich auf dem Rasen bequem, Mittagspause vor dem nächsten Meeting. Kein Schild, das dies verbietet.
Auf der Brücke, der Viaduto do Chá, tobt der Autoverkehr. Darunter hängen Seile, gut zwanzig Meter lang, an deren Enden Schaukeln baumeln. Die Sitzflächen bestehen aus Schläuchen ehemaliger Autoreifen, und während man gemächlich hin und her pendelt, Beine und Oberkörper im Rhythmus schwingend, taucht man mal in die Sonne des Parks, mal in den Schatten der Brücke, wo an den dunklen Wänden zwischen Tags und Kritzeleien ein Schriftzug prangt:
„Meninos do Viaduto“. Kinder der Brücke. Die Urheber des Spruchs leben direkt darunter. Auf Decken, in Karren, schmutzig, traurig und stolz.
Man kann sich gut vorstellen, wie der Park glänzen könnte. Ein Edelstein inmitten der Welt aus Fahrstühlen. Man müsste nur das Skaten verbieten, müsste die Grünflächen schützen und das Sprühen von Graffiti unter Strafe stellen. Die Meninos do Viaduto sowieso. Dann könnte man das schwarz-weiß karierte Pflaster entlang flanieren, könnte sich an der Hand nehmen und Fotos knipsen, wie man sie von den Postkarten in den Souvenirläden am Praça da Sé kennt. Auf denen man strahlt und die Stadt dahinter strahlt auch. Der Park wäre ein schönes Bild. Hübsch und unbeweglich und stumm.
Doch São Paulo lebt. Und was lebt, nutzt ab. Hier wird nichts kaschiert oder weggesperrt. Das Hässliche, das Schmutzige, die Armut ist ein sichtbarer, aktiver Teil der Stadt. Sie campiert neben den Edificios, sitzt im Schatten der Bäume, streckt die Hand aus, und mahnt, dass Reichtum nur in Relation zu Armut existiert. Es ist schwer zu fassen, aber durch die Integration der Armut in die Stadt gewinnt die Armut ein Stück an Würde. Zeigt, dass jede Brücke im Notfall ein Haus sein kann, an die man seinen Namen wie eine Hausnummer schreiben kann.
Schönheit in São Paulo muss man entweder suchen oder schaffen. In dieser Stadt, die dem Leben so feind wirkt, ist das intensivste, das man finden kann, das Leben selbst.
Oder wie meine Begleitung sagt: „Ich finde, São Paulo ist einfach schöner von Innen als von außen.“