Und dann sind da noch die anderen.
Auf der Praça vor der Estação Julio Prestes zieht eine Putzkolonne vorbei. Breite Schläuche schleifen über Steinplatten, spritzen Wasser in die Fugen, waschen, was zu waschen ist. Im Hintergrund, durch die Häuserfronten hindurch, prangt das Reiterstandbild des Duque de Caixas. Mit hoch gerecktem Säbel zieht er in die Schlacht. Als die Putzkolonne verschwindet, bleibt das, was nicht wegzukehren ist. Dunkle Gestalten. Oft nicht mehr als ein Bündel Knochen, von einem viel zu großen Stück Haut zusammengehalten. Sitzen da unter Steinvorbauten, die Knie gegeneinander gelehnt, die Rücken an den hohen Holzportalen.
Auf der anderen Seite der Praça liegt ein Rasenstück. Plastiktüten und Kleidungsstücke fliegen herum, manchmal noch ein Mensch darin. Da rauchen sie Pfeife. Crack ab zwei Rais die Dosis. 5-15 Minuten Glück.
Wie gewöhnlich in Brasilien ziehen Menschen Menschen an. Wo viele sind, wollen alle sein. Wo keiner ist, will niemand hin. Cracolândia nennt man das Gebiet zwischen der Praça de Republica und der Estação da Luz. Angelehnt an Disneylandia, an Mickey und Donald und die Schneekönigin.
In Scharen kommen sie hier her. Aus der Peripherie, zum Teil aus anderen Städten, um unter ihres gleichen zu sein. Niemand da vor dem sie sich schämen müssen. Die Regierung hat schon mehrere Versuche unternommen, des Problems Herr zu werden. Zum Teil mit Gewalt, zum Teil ohne. Stets erfolglos.
Die Estação da Luz wurde Ende des 19. Jahrhunderts erbaut. Um den Kaffeeboom des Landes in geregelte Bahnen zu lenken. Ein prunkvoller schottischer Bau, Wahrzeichen des damaligen Reichtums der Stadt.
Verlässt man den Bahnhof heute in Richtung Osten, kommt man in den Jardim da Luz. Hohe Palmen und Gummibäume spenden Schatten spenden und Wasserspiele berieseln die bekoikarpften Teiche.
Verlässt man den Bahnhof Richtung Westen, kommt man auf die dunklere, schmutzigere Seite.
Hier stehen die Prostituierten. In der einen Hand eine Kippe, in der anderen ihre Scham. Hier sitzen sie zu dritt oder viert auf dem Pflaster, scheinbar teilnahmslos, eine Pfeife kreisend, deren Inhalt in ausdruckslosen Gesichtszügen verschwindet. Ein Mann wankt durch die Straße wie ein Zombie. Hohle Augen, schlurfende Schritte, ein Speicheltropfen im Mundwinkel. Wie ein Zombie, kein Scherz.
Ich will mir kein Urteil über diese Menschen bilden, ich kenne die Geschichten nicht. Aber irgendwas scheint schief gegangen zu sein. Und die Stadt scheint irgendetwas damit zu tun zu haben. „São Paulo ist verrückt“, hat ein Freund zu mir gesagt. „Und wenn du genug Zeit hier verbringst, wirst du auch verrückt.“ Das Leben ist hier von solch hoher Intensität, dass es dich auszehrt. Was die Menschen antreibt, ist die ständige Hoffnung auf eine glückliche Fügung. Irgendein „Jeitinho“ des Lebens, der das Elend verschwinden lässt. Irgendwie wird irgendwas es schon richten.
Brasilianer können träumen. Können sich mit anderen, glücklicheren Menschen Identifizieren. Der Erfolg eines Neymar ist auch ein Erfolg für das Volk, schließlich stammt er aus dem gleichen Land, ist auf der gleichen Erde groß geworden. Doch die Menschen von Cracolândia identifizieren sich mit nichts mehr. Es herrscht eine vollständige Abwesenheit alles Wollens. Identifizieren sich nicht mal mehr mit sich selbst.
Einst zogen die Paulista als Goldgräber ins Land. Das tun sie auch heute noch, nur, dass das Gold weniger geworden ist, und schon längst nicht mehr golden. Aber sie suchen: in Hochhäusern, in klimatisierten Büros, in Parks, unter Steinvorbauten.
Manche, und das ist die Botschaft von Cracolândia, sind auf der Suche verloren gegangen.
Weiter im Zentrum schläft eine Frau unter den Heiligen der Catedral da Sé. Ihr Körper ist von einem Teppich zugedeckt, nur die Haltung verrät, dass darunter ein Mensch liegt. Die Flip Flops davor, dass es eine Frau ist. Die Heiligen über ihr schauen stumm über die Praca. Ihre Scheitel und Schultern sind von Vögeln besudelt, in den Händen halten sie heilige Bücher.
Tag um Tag drängen sich die Gläubigen an ihnen vorbei, Rosenkränze betend, sich bekreuzigend, den Kopf gen Füße gerichtet, ein diffuses Heil suchend. Manchmal werfen sie den Armen etwas zu. Die Heiligen stehen darüber und halten Wache. Was sie bewachen, wissen sie nicht. Sie sind ja nur aus Stein.