Eine alte Frau steht vor der Bar do Parque. Sie hat lederne Haut und zigarettenfarbene Haare. In der einen Hand trägt sie eine Plastiktüte, in der anderen einen Joghurtbecher. Sie spricht leise mit dem Garçom, dann ruft sie laut „Chupa!“ und „Porra!“, und andere Dinge, die ich nicht verstehe, und spuckt auf den Boden. Sie gehört hier zum Interieur.
Die Bar do Parque ist eine der ältesten Bars der Stadt und ein Sinnbild Beléms. Ein winziges Thekenhäuschen, nicht viel größer als zwei Bushaltestellen, steinerne Bordüren, ein schmales Milchglasdach, das vor Regen schützt, dazu feine Verzierungen um den Ausschank herum. Ein paar Stufen hinter dem Häuschen führen auf eine aus weißem und schwarzem Stein gearbeitete Terrasse, wo zwei Palmen Schatten spenden. Direkt daneben befindet sich das Teatro da Paz.
Einst traf sich hier die Hochkultur. Beléms Hochzeit lag um die letzte Jahrhundertwende. 1839 hatte Charles Goodyear die Vulkanisation und damit das Gummi erfunden, und der rasante Siegeszug dieses neuen Produkts erforderte stetigen Nachschub an Rohmaterial, welches in den Wäldern um Belém und Manaus aus den Rinden der Kautschukbäume geschnitten wurde.
Über Nacht regnete es Geld in der Stadt. Prunkbauten wie die Catedral da Sé schossen aus dem Boden, befestigte Straßen wanden sich um aufsprießende Villenkomplexe, man leistete sich Extravaganzen wie eine Straßenbahn, oder die Relogio auf dem Praça Sequeiro Campo. Bei Nacht begann alles in einem künstlichen und magischen Licht zu leuchten. Denn als erste Stadt Brasiliens verfügte Belém über Elektrizität.
Über 100 Jahre konnte man sich hier allen Luxus der Welt leisten. Die Italiener kamen, die Franzosen kamen, das bohéme Leben des europäischen Fin de Siecle fand Einzug in die Sümpfe der Amazonas. Der gesamte Reichtum der Stadt fußte auf Gummi.
Doch so wie Gummi mit der Zeit porös wird, so bröckelte bald auch der Reichtum Beléms. 1876 war es dem Engländer Henry Wickham gelungen, ein paar der streng behüteten Kautschuksamen zu stehlen und über die Grenze nach Europa zu schmuggeln. Bald pflanzte er eigene Plantagen in Asien, die dem Markt in Amazonien Konkurrenz machten, denn Plantagenpflanzungen waren in Brasilien aufgrund intensiven Pilzbefalls nicht möglich. Und so verlor die Stadt das Wettrennen um das Monopol Gummies – und ihr Untergang war eingeleitet.
Heute besteht Belém vor allem aus Feuchtigkeit, Hitze und Mangobäumen. Diese unbezwingbare Lebenshoffnung, die sonst an so vielen Orten Brasiliens zu spüren ist, und die sich in Kunst, Musik und Lebensfreude äußert, gibt es hier nur selten. Stattdessen gibt es vor allem schlechte Zähne, bare Füße und Frust in verschwitzten Gesichtern. Der Reichtum, die hier an allen Ecken und Enden von Schlingpflanzen überwuchert vor sich hin vegetiert, macht die Wehmut nur noch schlimmer.
„Brahma oder Cerpa?“, fragt mich der Kellner in der Bar do Parque mit einer Stimme die keine anderen Getränke zulässt. Er trägt ein blütenweißes Hemd, so weiß, wie die Blüten hier eben sein können, dazu Fliege und Lackschuh. Nachdem ich mich für eine Sorte entschieden habe, rummst er die Flasche auf den Tisch, köpft den Hals und schleudert den Kronkorken in der gleichen schwungvollen Bewegung auf das Pflaster. Er hat diese Schnodderigkeit eines aus der Zeit gefallenen Großvaters. Doch irgendwo auch den Stil und die Haltung des Mannes, der er einst war: Der Garçom der Bar do Parque, dem angesehensten Etablissement der Stadt.
Nachdem der Kellner verschwunden ist, humpelt eine ältere Dame die Trepe zur Terrasse empor. Sie trägt einen türkis beblumten Anglerhut, verschiedene Goldketten um den Hals, dazu ein zu weites grünes T-Shirt, Bermudas, Flip Flops und eine Krücke. Schwankend setzt sie sich an einen der Metalltische, stellt die Krücke ab und schlägt eine Zeitung auf.
Eine weitere Frau spricht mich an, ob ich nicht ein wenig Geld habe, vielleicht ein paar Erfrischungen kaufen will. Sie erzählt mir, dass sie aus Französisch-Guayana komme, mit einem General verheiratet und nun aus irgendwelchen Gründen in Belém gelandet sei. Als Beweis streut sie immer wieder französische Wörter in ihre Geschichte ein: „Beaucoup, beaucoup, beaucoup, oh lala, mais non.“
Als ich sie darauf aufmerksam mache, dass ich kein Franzose sei, gar kein französisch spräche, will sie davon nichts hören. Nein, ich sei aus Französisch-Guayana, ob ich nicht eine Erfrischung kaufen wolle?
In einer Ecke sitzen zwei Prostituierte außerhalb des schummrigen Lichtkreises der einzigen Laterne des Platzes und beobachten uns. Manchmal winken sie mir zu. „Alemão“, flüstern sie auffordern. Ein Typ fragt mich, ob ich eine aus einem Palmblatt gearbeitete Gottesanbeterin kaufen wolle. Eine Katze sitzt in der Mitte des Pflasters, niemand weiß, woher sie gekommen ist.
All diese Gestalten haben ihre beste Zeit bereits hinter sich. Das wissen sie, und so weiß es auch ihre Stadt. Wo es keine Hoffnung auf eine positive Zukunft gibt, wird auf die Gegenwart nur wenig Wert gelegt.
Innerhalb von 25 Jahren hatte sich die Bevölkerungszahl Beléms beinahe verdreifacht. In der gleichen Zeit darauf verlor fast die Hälfte der Menschen ihre Arbeit.
Pará, der Bundesstaat Beléms, ist immer noch ein reiches Land. Die Erde bietet alles im Überfluss, der Fluss gibt Fisch und Wasser, doch die Menschen brauchen keinen Fisch mehr, keine Früchte. Sie brauchen Fernsehen, Geld und Benzin. Das Geld hat die Zeit überholt und ist danach gegangen.
Natürlich ist es auch das Klima, das den Menschen zu schaffen macht. Durchschnittstemperaturen von knapp 30°C, bei einer Luftfeuchtigkeit von bis zu 90%. Das sind klimatische Verhältnisse wie in der Umkleidekabine der 2. Herren meines Heimatvereins kurz nach Abpfiff der zweiten Halbzeit.
Einst war Belém ein Flussdelta, wo sich unzählige Nebenarme des Amazonas im Dickicht verloren. Doch mit dem Wachstum der Stadt wurden die Poren des Landes verklebt. Die Nebenarme wurden zugeschüttet, der Boden per Asphalt versiegelt, so dass die Erde erstickte.
Es regnet weniger seit einigen Jahren. Seit so viel des Waldes fehlt, der ursprünglich für die Verdunstung sorgte. Wenn es dann regnet, wird alles überschwemmt, weil nichts abfließen kann. Die ehemaligen Flussarme laufen voll, unterspülen die Mangobäume, rauben ihnen den verbliebenen halt, und nicht selten kracht einer der altehrwürdigen Stämme auf die Straße, um ein Verkehrschaos zu verursachen.
Eine schmale Treppe vor der Bar do Parque führt hinab zu den Toiletten. Schon von der zweiten Stufe aus schlägt mir der Geruch von Pisse und anderer Feuchtigkeit entgegen. Unten gibt es kein Waschbecken, keinen Spiegel, nur eine Pfütze in einem schmalen Gang, und eine Frau, die sich schminkt. Die Herrentoilette ist nicht mehr als eine geflieste Aussparung in der Wand.
Wenn man nur einmal die Zeit zurückdrehen könnte! Die Treppe nach oben rückwärts durchs Jahrhundert marschieren könnte. Der Kellner wäre ein Jüngling mit schwarz glänzendem Haar, die Dame mit Anglerhut eine dunkle Schönheit mit übereinander geschlagenen Beinen. Eine, nach der sich die vergebenen Herren an den Händen ihrer Damen heimlich umdrehten. Die feinen Damen wären die heutigen Prosituierten. Aus dem Theater hörte man leise Musik. Die mit dem französischen Einschlag begrüßt jeden Gast mit weltoffener Beflissenheit, die mit gelben Haaren steht als junges Mädchen da, mit Zigarettenspitze zwischen den Lippen. Auf den Straßen Hufgetrappel und Sonnenschirme mit Spitze. Die Luft riecht nach Sonne und Zukunft.
Ich nehme einen letzten Schluck aus meinem Bier, dann ist meine Zeit gekommen. Vor dem Theater warten die Popcornverkäufer auf ihr Publikum. Die alte Frau vor dem Thekenhäuschen flucht noch immer.