27.05.2016, Tiberias am See Genezareth
Endlich komme ich dazu, etwas zu schreiben. Die ersten Tage waren zu hektisch, zu nervenraubend, um einen klaren Moment zu fassen. Wir stolperten von Ereignis zu Ereignis, von Konflikt zu Konflikt, und erst jetzt, wo wir ein paar Tage im Land sind und unsere Wanderung begonnen haben, finde ich die Ruhe, um meine Eindrücke zu verarbeiten.
Ich sitze auf einem heruntergekommenen Balkon in Tiberias, über mir rasselt eine Klimaanlage. Um mich herum wird es langsam dunkel. Gegenüber blinkt eine Leuchtreklame. Dahinter, durch ein paar Palmen hindurch, kann ich das Ufer des See Genezareth sehen. Auf der anderen Seite springen langsam die ersten Lichter an.
Als Sören und ich gestern Abend aus den Bergen von Yardenit herunterkamen, die Beine mehr stolpernd als schreitend, wurden wir vom plötzlich um uns existierenden Leben vollkommen überrumpelt. Wir nahmen das erste Hotel, dass wir finden konnten. Der Rezeptionist, und gleichzeitig der Hotelbesitzer, wie er sagte, saß oberköperfrei an einem Funierholztresen Tresen und rauchte Filterlose. Seine Brust war schwach behaart und vor nicht allzu langer Zeit mal trainiert, in seiner Jeans sah er aus, als sei er schon häufiger mit Wladimir Putin jagen gegangen. Auf dem Computer war noch ein Google-Tab geöffnet. Suchbegriff Mila Kunis.
Wir waren müde, bezahlten in bar und ließen uns ins Bett fallen. Rosa Bettbezüge und Kopfkissen. Dazu eine Fleecedecke, die mich auf den ersten Blick davon überzeugte, lieber meinen Schlafsack zu benutzen. Die Fenster waren mit dunkler Folie abgeklebt, gegen die Sonne, die Klima-Anlage leckte auf eines der Betten. Auf der Toilette fanden wir unangenehme Spuren der letzten Besucher. Der Kühlschrank war voll, keine Ahnung mit was, und die unteren Schublade meines Nachttischs war aus irgendeinem Grund bis an den Rand mit Plastikgabeln gefüllt. Wir waren glücklich. Drei Wandertage bei 35°C und ohne Dusche hatten uns zu etwas gemacht, das deutlich schlimmer aussah und roch als alles, was wir hier finden konnten. Wir trugen Schweißränder am Hals und an den Cappies, mein Hemd war staubig und an verschiedenen Stellen gerissen, Sören sah alles in allem aus wie ein Blut-Golem. Aber wir hatten Flip-Flops im Gepäck und die Dusche gab einen warmen und gleichmäßigen Strahl. Wir duschten länger als es sich für ein so wasserarmes Land gehört. Was wollten wir mehr?
Das Licht der Werbereklame unter mir blinkt unruhig im Augenwinkel und auf der Fassade der daneben liegenden Altstadtmauer. Sören fummelt an seinem Tonaufnahmegerät herum. Schnippst mit den Fingern und redet mit sich selbst. „Athmo einfangen“, nennt er das. Aus dem Innern des Hauses hört man jemanden einen Film gucken. Ein neuer Rezeptionist sitzt dort. Durchtrainierter Eiweiß-Körper und Oberarm-Tattoos.
Irgendwann schafften wir es gestern Abend doch noch, loszuziehen. Der Hunger trieb uns nach draußen. Wir fanden eine mäßige Falafel mit labbrigen Pommes und entschieden uns für einen letzten Abendspaziergang an der Uferpromenade.
Und dort entdeckte ich das Pony. Es stand da, bereits gezäumt und gesattelt, an einem Betonpfeiler an einer Ecke und pisste ungeniert auf den Asphalt. Ein paar zwielichtige Jungs saßen in Plastikstühlen darum herum und sprangen auf, um den aufspritzenden Tropfen auszuweichen. Dann kamen die Crêpe-Verkäufer und Eisstände. Frauen in leichter Kleidung verkauften leichte Kleidung und Schmuck, bunt leuchtende Plastikbälle rollten über das Pflaster, batteriebetriebene Plüschtiere hoppelten in hölzernen Carrés, alles, was man aus Farbe und Plastik herstellen konnte, gab es hier zu kaufen. Ein Mädchen saß ein Stück weiter in einem umgebauten Rennwagensitz und jauchzte. Sie trug eine dieser kastigen Virtual-Reality-Brillen, der Stuhl ruckelte auf und ab, und sie schrie vor Aufregung.
Wir gelangten an die Promenade. Auf einer Mole auf der anderen Seite des Hafenbeckens war eine Bar geöffnet. Lauter, übersteuerte Elektrosound waberte über das Wasser, Mädchen, die auf dem Tresen tanzten whooten zu uns herüber. „Uuuuuui!“, sagte Sören und kniff mich in die Schulter. „Abifahrt!“ Und bevor wir wussten, was geschah, waren wir drüben. Wir bekamen Bier gereicht, wir wussten nicht von wem, jemand klopfte uns auf die Schulter und rief: „Yeah! Fuck the french!“ Wobei er uns im Unklaren ließ, ob wir nun Geschlechtsverkehr mit Französinnen suchen sollten, oder ob er einfach keine Franzosen mochte. Ein Barmann fütterte ein Mädchen auf dem Tresen mit Wodka. Jemand warf Servietten in die Luft, die vom Wind erfasst über der tanzenden Menge abregneten. Bengalos wurden gezündet, die das Publikum johlend durch die Nacht schwenkte. Der Bass rumste in der Brust. Bier und Cocktails. Und genau das, was wir brauchten, um die Strapazen der letzten Tage zu vergessen.
Ein paar Stunden früher, denke ich jetzt, wo ich hier auf meinem Balkon sitze und schreibe, ein paar Stunden früher stand ich noch neben Sören auf einem schattigen Aussichtspunkt über dem See Genezareth und mixte ihm ein Rehydrationscocktail, den man eigentlich nur bei Durchfall verwenden soll, um ihn wieder auf die Beine zu kriegen. Ich glaubte nicht daran, dass wir Tiberias noch vor Sonnenuntergang erreichen würden. Und ich sah meine Felle bezüglich der nächsten Wandertage schwimmen. Wie sollten wir bei dieser Hitze nur anständig voran kommen?
Jetzt habe ich gut gegessen, ein echtes Dach überm Kopf und einen leichten Kater. Vielleicht ist es das, was Jesus meinte, als er sagte: „Sorge dich nicht ums Morgen.“
Ich hoffe, in den nächsten Tagen schaffe ich es, mehr zu schreiben.