Ich bin hier mit der Flupp, einer soziokulturellen Organisation, die Literatur und Spoken Word Kunst in die Comunidades bringen will. Flupp steht für „Festa Literária das Periferias“. Ursprünglich nannte sich die Gruppe „Festa Literária das UPPs“, aber schnell weitete sich ihre Idee aus und man ging mit den Projekten nicht mehr nur in die befriedeten Favelas (UPPs), sondern bis hinaus in die Peripherie. 2012 formierte sich das Team der Flupp, bis heute hat es unzählige Schulen und Comunidades besucht und bereits zwei Anthologien mit Texten ihrer unentdeckten Talente veröffentlicht.
Einige ihrer Autoren haben es bis auf den nationalen Buchmarkt geschafft. Schwarze Autoren. Junge Autoren. So wie Ana Paula Lisboa. 27 Jahre alt, Tochter schwarzer Arbeiter aus der Maré, Zona Norte. Ihre Texte sind in mehreren nationalen und internationalen Anthologien erschienen, zuletzt erhielt sie den „Carolina de Jesus“ Preis.
Vor ein paar Jahren war das noch undenkbar. Die Literaturszene war eine weiße. Eine ältere, eine aus der Mittelschicht. Doch mit Präsident Lula, und später mit Dilma, wurden die Grenzen zwischen arm und reich, zwischen gebildet und ungebildet durchlässiger. Einige schafften es, durch die Maschen des Zauns hindurch zu schlüpfen, und hinüber auf die andere Seite zu gelangen.
Ana Paula bezeichnet sich selbst als „Kind Lulas“. Lula und Dilma seien Präsidenten „para o pobre, o povo“. Für die Armen, für das Volk.
Auf staatlicher Ebene sind beide zurzeit allerdings von Korruptionsgerüchten verfolgt.
Unerreichbar weit oben über dem Complexo schwebt die Teleférico do Alemão. Eine 3,5 km lange Seilbahn, die den Complexo intern verbindet. 2011 eingeweiht verbindet die Bahn über sechs Stationen den Ortsteil Palmeiras mit dem Bahnhof Bonsuccesso. Anfangs war die Fahrt für Bewohner des Complexos kostenlos. Eine gute und günstige Möglichkeit sein Zuhause schnell zu erreichen – was auch die ca. 200 Häuser kompensieren sollte, die für den Teleférico abgerissen wurden. Eine gute Möglichkeit, die Infrastruktur der Zona Norte zu beleben. Heute kostet die Fahrt von einem Ende der Bahn bis zum anderen 5 Reais. Beinahe unerschwinglich für einen Anwohner des Complexos. Auf unserer halbstündigen Fahrt sehen wir exakt zwei andere Gondeln besetzt. Am Wochenende, sagt man, soll es voller sein. Dann kommen die Touristen, die in ihren Reiseführern von der Bahn als Attraktion gelesen haben. Und der Complexo darunter wird zum Zoo.
An die Mauer der Escola Municipal Odilon de Andrade ist ein Graffiti gesprüht:
+ Educação – UPP.
Drinnen im Lehrerzimmer hängt ein Poster: „Elas precisam de escola, não de prisão“. „Sie brauchen Schule, kein Gefängnis.“ Die Kampagne ist ein Protest gegen einen aktuellen Gesetzesentwurf des Staates, das Eintrittsalter von Kindern in Erwachsenen-Gefängnisse von 18 auf 16 herab zu senken- Während gleichzeitig allerorts Gelder an Schulen und Universitäten gestrichen werden. Es geht darum, mehr Struktur in das Leben der Comunidades zu bekommen: ein intaktes Verkehrssystem, Strom- und Wassernetze, allem voran Bildung.
Auf der anderen Seite der Mauer der Escola Municipal Odilon de Andrade, nachdem wir das eiserne Eingangstor durchschritten haben, spielen die Kinder Fußball. Sie tragen ein weißes T-Shirt mit blauen Streifen, Schuluniform der Prefeitura. Es wirkt als trügen sie es mit Stolz. Die Kinder hier sind diszipliniert, Schule gilt als Privileg. Projekte wie die Flupp sollen helfen, den Horizont über den Complexo hinaus zu öffnen. Ein Teil der Idee ist, Größen der cariocischen und brasilianischen Kulturszene zu Diskussionsrunden einzuladen. Rapper, Fotografen, Kuratoren, Schriftsteller. Vorbilder. Oder ein Deutscher, der ihnen etwas über Poetry Slam erzählt.
„Du bist der erste Ausländer, den ich in meinem Leben sehe“, sagt ein etwa zehnjähriger Junge zu mir. „Nein, warte! Der zweite!“
Dann singen wir die Nationalhymne: mal hoch, mal tief, mal laut, mal leise, mal schnell, mal langsam. Ich erzähle aus meinem Leben, von meiner Arbeit, und schließlich schreiben wir gemeinsam kurze Gedichte. Über Brasilien, über Rio, über den Complexo do Alemão.
Brasilian ist wie eine Mutter ist wie Familie ist wie Geborgenheit ist wie ein Zuhause.
Rio ist wie Samba ist wie Karneval ist wie Party ist wie tanzen ist wie gemeinsam sich freuen.
Complexo do Alemão ist wie Armut ist wie zerstörte Häuser ist wie ein neuer Anfang ist wie Hoffnung ist wie ein Ort im Zimmer, ganz für mich.
Ich kann nicht für die gesamte Zona Norte sprechen, nicht für die Gesamtheit aller Favelas. Aber in diesen Gebieten steckt so viel Spannung, so viel Potenzial. Ein Drang zum Leben. Alles steht zwischen Neuanfang und Verfall. Bei den meisten Häusern weiß man nie, ob sie gerade gebaut oder bereits abgerissen werden. Die überall angezapften Stromleitungen verbinden die Wohnungen wie Spinnweben. Dazwischen Hängen die Gerippe von Flugdrachen. Kaum eine Wand, die nicht auf irgendeine Weise betaggt, besprayt bemalt ist. Man will Zeichen hinterlassen. Zeigen, dass man da war, dass man da ist.
Und vielleicht kann die Teleférico am Ende doch noch ein Gewinn für den Complexo sein. Wenn die Menschen aus ihren Gondeln steigen und mit den Menschen in Kontakt kommen. Wenn die Vorurteile zwischen Zona Sul und Zona Norte abgebaut werden, und es gewöhnlicher wird, dass Menschen wie Ana Paula die andere Seite besuchen. Dafür braucht es Bildung und Aufklärung. Organisationen wie die Flupp.