14 – Petrópolis – Die Causa Stefan Zweig

Und nun also Petropolis. Die letzte Station meiner Reise. Vielleicht auch das Ziel. Fünf Monate lang ist Stefan Zweig für sein „Brasilien – Ein Land der Zukunft“ unterwegs gewesen. Auf einer ähnlichen Route wie ich. Am Ende ließ er sich in Petropolis nieder, und nahm sich knapp ein halbes Jahr später das Leben.
Das Brasilien, das Stefan Zweig beschreibt, gleicht einem Paradies. Ein Land, in dem der Humanismus lebt, an dem sich alle Länder der Welt ein Beispiel nehmen können. Menschen aller Klassen und Rassen pflegen einen freundlichen und respektvollen Umgang miteinander, die Natur ist überwältigend, die Architektur ein großes „Ja“ an alles kommende. Brasilien war für Stefan Zweig das Land der Zukunft. Das schrieb er nicht nur so. Wohl kaum jemand konnte in seinen Texten so verehren und gleichzeitig so verabscheuen wie er. Brasilien liebte er.
Doch Brasilien war eben auch sein Exil. Stefan Zweig kam als Flüchtling. Bereits 1934 war er aus Salzburg geflohen, um dem Naziterror zu entgehen. Kurz darauf wurden seine Schriften verbrannt und verboten. Zunächst lebte er in London. Doch auch dort fühlte er sich zu nah an den Verbrechen der Menschheit. Und so kam er nach Brasilien. Als Bürger eines Landes, oder vielmehr eines Kontinents, der zerrüttet war von Krieg, Gewalt und Misstrauen. Brasilien konnte ihn noch so sehr Willkommen heißen – er konnte es nicht als seine Heimat akzeptieren. Seine Heimat glaubte er für immer verloren.

Wenn ich dieser Tage die Zeitung aufschlage – und ich habe keine Zeitung, deshalb schlage ich meinen Laptop auf, beziehungsweise, ich wische ein, zwei Mal über mein Smartphonedisplay – dann schlagen mir all die Nachrichten entgegen: aus Syrien, Deutschland, aus Bayern, Sachsen, Heidenau und Bremen-Nord. Bei uns in Blumenthal entsteht ein Flüchtlingslager, eine Zeltstadt gleich um die Ecke auf der großen Wiese. Es soll halten bis die nahe gelegenen Kasernen bezugsfertig sind.
Neulich hat jemand versucht, die Zelte anzuzünden. Und ich glaube, es war der erste Moment in dieser langen schwierigen Zeit gerade, in dem ich ehrlich betroffen war. Bis dahin war alles so weit weg gewesen. Fremdenfeindliche Orte, von denen ich gehört hatte, klar, aber die mir nichts bedeuteten, weil ich keinen Bezug zu Ihnen hatte. Aber das hier war mein Zuhause. Das war da, wo früher der Zirkus stand. Die Hundescheiß-Weise, wie Mama sie nannte.
Zu dem was gerade in Deutschland passiert findet man tausende Texte im Internet. Jeder Mensch hat eine Meinung in Seitenlangen Dossiers und Facebook-Kommentaren. Klar ist, dass keiner der Texte die Wahrheit erfassen kann. Die Wahrheit ist nur zu erfassen, wenn man sich selbst ein Bild macht. Und das kann man nicht, wenn man in einem gemütllichen Bed-and-Breakfast-Zimmer in Petrópolis liegt, zwar sehr schön und mit Pool, aber eben auch über 10 000 Kilometer von der Heimat entfernt. 
Manchmal habe ich Angst, dass sich Deutschland gerade verändert. In welcher Weise kann ich nicht sagen, aber irgendwie verändert. Manchmal fürchte ich, ich komme nach Hause und das Land besteht nur noch aus Flüchtlingen und Nazis. Dann schreibe ich eine Nachricht nach Hause und man sagt mir, dass es nicht so schlimm sei, und dann denke ich, klar, ich habe wieder übertrieben.

Stefan Zweig wurde häufig vorgeworfen, dass er sein Brasilienbuch geschönt habe. Um die brasilianische Regierung wohlwollend zu stimmen, um ein Visum, um Asyl zu bekommen. Ich halte das für Blödsinn. Wer aus dem damaligen Österreich kam, musste Brasilien für einen Hort des Humanismus halten. Hinzu kommt mein Eindruck der letzten zwei Monate: Nichts können die Brasilianer so gut wie leben und hoffen. 
Zwei Dinge, die im Europa Stefan Zweigs nicht mehr existierten.

Die Straßen von Petropolis sind sehr ruhig. Kopfsteinern und grün bewachsen. Mitunter trennt ein Kanal die Fahrbahnen, ab und an sieht man Kutschen. Die Häuser außerhalb des Zentrums geben sich alt und herrschaftlich. So auch die Casa Stefan Zweig, Zweigs ehemaliges Wohnhaus, heute ein Museum. Es ist sehr schön dort. Von der Terrasse konnte man damals bis weit ins Land hineinschauen. Stefan Zweig betont immer wieder, wie sehr er dieses Land geliebt hat.
Doch er sprach die Sprache des Landes nicht. Seine eigene Sprache, seine Profession war für ihn in der Heimat gestorben. In Petropolis gab es keine deutschen Bücher. Keine deutschen Freunde, kein Skype. Es gab nur Zettel und Stift, und zwar ein atemberaubendes Umfeld, das aber ohne die passenden Schlüssel verschlossen blieb.
Stefan Zweig rechnete nicht damit, noch einmal nach Europa zurück zu kehren. Seine Europa existierte nicht mehr. „Das Wien von gestern“, „Die Welt von gestern“, „Brasilien ein Land der Zukunft“, so hießen die Titel seiner Texte. „Doch für einen Neuanfang“, so schrieb er, bedürfe es besondere Kräfte. „Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft.“

Am 13. Oktober fliege ich zurück nach Deutschland. Ich bin froh, dass ich die Möglichkeit dazu habe. Ich werde vorher noch einmal in der Copacabana baden, werde mein letztes Grillfleisch essen, werde eine Kokosnuss ausschlürfen und vielleicht einen Tapioca mampfen. Und dann werde ich in den Flieger steigen, werde einen Film mit Adam Sandler gucken, ein paar Stunden schlafen und mir schließlich selbst ein Bild von der Lage in Deutschland machen. Im schlimmsten Fall werde ich nach Bremen-Nord reisen und ein paar alten Freunden gegen die Schienbeine treten müsse.
Brasilien wird für mich eine glänzende Erinnerung bleiben. Noch nie habe ich ein Land erlebt, dass so sehr nach Leben strebt – und sich in diesem Drang gleichzeitig so intensiv beschneidet. Wenn das Land seine Kräfte bündelte, wenn es sie nicht gegen- sondern miteinander Einsetzen würde, dann würde er hier bald überschäumen und blühen vor zukünftiger Pracht. Doch das wird wohl noch eine Weile dauern. Und so bleibt Brasilien wohl auch weiterhin ein Land der Zukunft.

So schön meine Zeit auch war, freue ich mich nun auf Zuhause. Ein Ort, den jeder Mensch braucht. Und der denen, die ihn verloren haben, so gut es geht bereitet werden sollte.