Gestern haben sie hier wieder geschossen. Auf Facebook schreiben sie, die Befriedung des Complexos verlaufe über Stahl. Es ist gut, sagt unser Fahrer, dass unser Bus keine verdunkelten Scheiben habe. So etwas mache den Polizisten Angst.
Angst sei immer gefährlich.
Einen, vielleicht zwei Monate ist es her, dass die UPP, die Unidade de Polícia Pacificadora, die „Befriedungspolizei“, hier vor der Escola Municipal Odilon de Andrade einen Schüler erschoss. Ein spontaner Einsatz, irgendeinen Banditen aus irgendeinem Loch ziehen, Befriedung eben. Und der Junge ist gerannt. Aus welchen Gründen auch immer. Rennen macht hier verdächtig.
2008, ein Jahr nachdem Rio die Wahl für die Fußball Weltmeisterschaft 2014 gewonnen hatte, begann die UPP mit der Säuberung der Favelas. Das alte, von Korruption durchsetzte Polizeiteam sollte unterstützt, und nach und nach durch die junge militärische Spezialeinheit der UPP abgelöst werden. Die Cidade Maravilhosa sollte nicht mehr die dunkle, zwielichtige Stadt sein, in der eine Handtasche oder ein Päckchen Kokain mehr wert sein konnte als das ein oder andere Leben.
Die UPP verhandelte nicht, sie war nicht käuflich. Sie schoss. Dann schaute sie sich um. Wenn ihnen unschuldige zum Opfer fielen, dann waren sie allein schon dadurch nicht mehr unschuldig, dass sie tot waren. Ein Toter konnte sich nicht verteidigen. Und in den Favelas, so die Moral, konnte es keinen falschen treffen.
Wenn man hier die Menschen fragt, was sie von der UPP halten, kriegt man selten eine positive Antwort. Befriedung nennen es die einen. Besetzung die anderen. Die alten Mächte, die Drogenkommandos, hatten sich über Jahre in den Favelas etabliert. Sie waren mit dem Complexo aufgewachsen, man kannte sich, kannte die Gepflogenheiten, wusste, wie man sich wem gegenüber zu verhalten hatte. Doch nun sind die Hierarchien durcheinander geraten. Eine Fluktuation der Drogenkartelle hat begonnen. Überall entstehen neue Machtkämpfe. Es ist keineswegs so, dass die Kriminalität in den befriedigten Gebieten besiegt ist. Vielmehr wurde sie unterdrückt. Ist abgewandert in die Peripherie.
So ist die Situation zwischen den Spielen. Im kommenden Jahr, zu Olympia, soll die Stadt noch einmal glänzen. Soll Aushängeschild Brasiliens sein, ruhig und sicher. Niemand hier kann sich ausmalen, was danach passiert. Wenn die Spiele vorbei sind, wenn die UPP abrückt, und ein Machtvakuum hinterlässt, dass danach ruft, gefüllt zu werden.
Bereits in den 90er Jahren gab es eine ähnliche Situation. Als einige in den Ruhestand getretene Polizisten bemerkten, dass sie immer noch Macht in den Favelas hatten. Und dass sie diese durch ihre Beziehungen in Politik und Verwaltung ausbauen konnten. Sie boten Fernsehnetze an, Gasflaschen, Sicherheitsdienste. Und ihre Macht wuchs. So entstand die „Milicia“. Ein weiteres Kartell neben den bereits existierenden „Comando Vermelho“, „Terceiro Comando“ und „Amigos dos Amigos“. Die Milicia, so sagt man, sei die schlimmste, die brutalste und unberechenbarste unter den kriminellen Banden.
Auch sie kamen nicht aus den Favelas, waren nicht in dieser Umwelt aufgewachsen, in der man sich seit Kindesbeinen an kannte, und wusste, wie man einen Gefallen vergalt. Wie man in bestimmten Situationen Gnade walten lassen konnte. Die Milicia kannte kein Erbarmen. Kennt sie bis heute nicht.
Ähnlich wie die UPP. Einige behaupten, sie agiere vornehmlich in anderen, nicht von der Milicia kontrollierten Gebieten. Um diese zu schwächen und die Milicia zu stärken. Befehle von oben, sagt man. Hinzu kommt, dass die Einheit der UPP sehr jung ist. Militärisch perfekt ausgebildet, aber unerfahren. Und so häufen sich erneut die Gerüchte über die Korruption.
So wie hier im Complexo do Alemão. Das Comando Vermelho ist hier sehr stark vertreten. Das Gebiet ist hügelig, die Kämpfer gut vernetzt. Die sich windenden Betongassen kaum zu überschauen. Und so herrscht Krieg zwischen den Fronten.
Die Schulen und ihre Schüler stehen dazwischen.
Hitzefrei gibt es hier nicht. Nur manchmal, wenn wieder geschossen wird.