Aufwachen um 6 Uhr morgens, noch einmal umdrehen gegen den Jetlag. Fünf Stunden Zeitunterschied gehen nicht spurlos vorüber. Ein paar Gymnastikübungen, dann joggen, um die Umgebung zu erkunden.
„Es gibt“, schreibt Stefan Zweig über Rio. „Keine schönere Stadt auf Erden, und es gibt kaum eine unergründlichere, eine unübersichtlichere. Und doch: Wo immer der Blick in Rio hinwandert, ist er von neuem beglückt.“
„Spaziergang durch die Stadt“ heißt das Kapitel in seinem „Brasilien – ein Land der Zukunft“. Damals spazierte man und schrieb Briefe. Heute geht man joggen und schreibt einen Blog.
So geht es für mich entlang der Rua Senador Vergeiro, vorbei am Almirante Tamandaré, dem großen Schutzpatron der brasilianischen Marine. Hinunter an die Avenida Infante Dom Henrique. Sechs Spuren, keine Ampel. Auf der anderen Seite die atemberaubende Aussicht über den Praia do Botafogo.
„Man glaubt an einem von Bergen umstandenen See zu sein“, schreibt Zweig darüber, und er hat Recht. Gegenüber der Zuckerhut mit seinen schroffen und regenwaldbeladenen Hängen, mit seiner Seilbahn, und den Affen, die nur darauf lauern, die Hüte, Armbanduhren und Sandwiches der ahnungslosen Touristen zu erbeuten. Rechts der Corcovardo, grau und grün und mit den erhaben geöffneten Armen Jesu darauf. Und rechts die offene Bucht von Guanabara, die sich bis über 50 Kilometer ins Landesinnere erstreckt.
Hier liegt der Ursprung des Namens „Rio de Janeiro“. Am 1. Januar 1502 entdeckte der portugiesische Seefahrer Gaspar de Lemos eine riesige Meereszunge an der Küste dieses noch jungen Brasiliens und hielt sie irrtümlicherweise für eine Flussmündung. Woraufhin er der Stadt, die dort bald an ihren Ufern heranwachsen sollte, den zwar falschen und doch wohlklingenden Namen „Fluss des Januar“, „Rio de Janeiro“ gab.
Würde ich dem Praia do Botafogo nach süden folgen, würde ich bald den Praia Vermelha erreichen. Einen schmalen und romantischen Meereszugang, von zwei riesigen Klippen umrahmt, der sich nach Osten hin den ungebremsten und wilden Wellen des Atlantiks aussetzt. „Keine Luxushäuser, kein Verkehr, keine Geschäftigkeit. Nur Wellen und Fels und Strand und Stille“, schreibt Zweig über diesen Ort. Heute wird sie lediglich hin und wieder von den gebrüllten Appellen der anliegenden Militärakademie unterbrochen.
Nördlich der Praia de Botafogo beginnt bald der Parque do Flamengo. Mein Weg folgt in geschwungenen Wellen der Küstenlinie vorbei an unzähligen Sportanlagen, an denen sich Rentner, Muttis, Bänker und Jugendliche ertüchtigen. Man springt seitwärts, vorwärts, rückwärts durch den Sand, macht Kniebeugen und Sit-Ups, schleudert Autoreifen über die Schulter, spielt Fußball, Volleyball und Beachvolleyfußball. Draußen auf dem Wasser treiben die Stand-up-Paddler. In den Kronen der Palmen sitzen die Papageien und spotten mit heiseren Stimmen. Es ist 8 Uhr morgens und Winter, und die gesamte Stadt ist auf den Beinen.
Untermalt wird das Treiben von einer Vielzahl von Flugzeugen, die immer wieder den Himmel über der Bucht zerfurchen und mit unnachahmlicher Präzision auf dem nahe gelegenen Flughafen Santos Dumont landen.
Um die Wende des 20. Jahrhunderts legte der Brasilianer Dumont, dieser überdrehte Luftfahrtpionier, in Paris den Grundstein für den heutigen Motorflug. Mal schwebte er mit seinen Luftschiffen am Eiffelturm spazieren, mal rettete er sich mit einem beherzten Sprung an einen Balkon aus einem seiner brennenden Flugkörper.
Auf meinem Rückweg sehe ich im Schatten eines weiteren Denkmals, dessen Namen ich mir nicht merken konnte, die harten Jungs mit Betongewichten trainieren. Hier trägt man keine T-Shirts. Hier pulsieren blaue Adern auf blanken Männerbrüsten. Hier hört man Stöhnen und Prusten, und sieht in verzerrten Gesichtern die Kiefermuskulatur hervortreten. Hier bleibe ich stehen. Ich ziehe mein Shirt aus, hänge mich an eine Klimmzugstange und ziehe mich empor. Für die nächsten zehn Minuten fühle ich mich wie Vin Diesel in einem seiner Knastfilme, durchtrainiert und zu allem bereit, dann verliere ich die Kontrolle über eine Langhantel, sie fällt mir auf den Fuß, und man sieht, wie meine Kiefermuskeln hervortreten.
Stefan Zweig wäre das vielleicht nicht passiert. Aber der spielte ja auch Schach.