7 – São Paulo – Im Labyrinth

Diese Stadt ist mehrstöckig. Zwei, drei, manchmal vier Brücken türmen sich übereinander, tief darunter verborgen noch die Tunnel der Metro. Darum herum schrauben sich die Hochhäuser und Wolkenkratzer bis hoch in den Himmel. 
Nicht selten gehst du eine Straße entlang, mit dem Gefühl die Türen der Häuser seien ebenerdig, nur um dich dann im nächsten Moment auf einer Brücke wiederzufinden, und festzustellen, dass sich unter dir noch eine Straße befindet und die Gebäude zu deinen Seiten bereits im dritten, vierten Stock liegen. Und über all dem schweben die Hubschrauber, die die Reichen und Beschäftigten an ihre wohl verteilten Arbeitsplätze bringen, denn Zeit ist Geld und Geld ist Zeit in dieser Stadt, in der es von beidem so viel und so wenig vor allem von allem nie genug gibt.
Es ist leicht, sich hier wie ein Schiffbrüchiger zu fühlen. Manchmal kommt es dir vor, also ob du wie durch Zufall auf einem dieser Balkone der unzähligen Hochhäuser im Zentrum stehst, und dann eröffnet sich ein Meer unter dir, eine Flut aus Beton, deren Wogen bis über den Horizont hinaus schlagen. Einsam und gestrandet stehst du da, den Wind im Bart, die Nussschale noch vor Augen, die dort vorne an der Kreuzung leck geschlagen ist, und nun langsam aber sicher die Avenida Paulista hinunter Richtung Niemandsland treibt.

Und doch gibt es Hoffnung. Wenn man den Boden unter den Füßen wiedergefunden hat, und den unausweichlichen Schock dieser Megametropole überwunden, dann kann man sich auf Safari begeben. In einer Stadt, die täglich um die 500 neue Autos in den Verkehr spuckt, am besten per Pedes.
Denn São Paulo ist riesig. So unfassbar und überschwänglich groß, dass man sie nur im Kleinen begreifen kann. Man muss sich auf Augenhöhe begeben, um die Details im Großen und Ganzen zu entdecken.

Und plötzlich wandelt sich das Bild der Stadt. Da warst du eben noch auf der Avenida Reboucas, gefangen zwischen zwei Kreuzungen, zwischen Wänden aus Stahl und Stein, und keine zwanzig Schritte weiter gehst du plötzlich eine schmale Straßen entlang, und es eröffnet sich ein Vorstadtidyll vor dir, mit niedrigen Häusern, Vorgartenpalmen, und kleinen Balkonen mit graziler Balustrade. Mit einem Mal bist du um ein Jahrhundert, um ein ganzes Zeitalter zurückversetzt.
Dann, keine zwei Atemzüge weiter, eine Brücke, die du unterquerst, Autos rauschen über dir, vielleicht ein Schrottplatz zur Linken im Zwielicht, Graffitis, streunende Hunde. Im Anschluss ein Hügel, der fast zu steil ist, um ihn zu erklimmen. Villen von hohen Mauern umgeben, und schon bist du wieder in einer völlig neuen Umgebung, vielleicht in einem der In-Viertel, voller Bars und Lanchonetes und Leuten, die auf Klappstühlen am Bürgersteig Fußball schauen.
Die Stadt ist über die letzten Jahrhunderte so schnell gewachsen, dass keine Zeit blieb, um so etwas wie Struktur zu entwickeln. Es bleibt ein Flickenteppich verschiedener Kulturen. Der Banker neben dem Bettler neben dem Punk neben dem Hipster neben dem Banker neben der Studentin neben dem Typen, der dafür bezahlt wird, dass er ein Pappschild auf einer Kreuzung hält. Das Hochhaus neben der Gründerzeitvilla neben dem Elektrizitätswerk neben dem Fußballstadion neben der Kreuzung auf einer Brücke. Die Gesamtheit dessen ergibt so viele Farben, so viele Konturen, dass die Stadt von weitem nur grau und schwammig wirken an.

Doch der Beton lebt. Ich hätte nie gedacht, dass ich Hochhäuser schön finden kann. Wie der Dschungel, der hier einst stand, sprießt und schießt alles in die Höhe. Wie einst die Pflanzen am gleichen Ort versucht jedes Gebäude das andere zu überragen, sich seinen Platz an der Sonne zu sichern. Aufzüge und Viadukte wie Lianen. Straßen, die sich kilometerlang durch die Stadt ziehen, wie ein immerwährendes Laufband, das einem kaum Zeit lässt, um Inne zu halten.
Die Wurzeln der Bäume krallen sich in den nackten Stein, mal hängen sie scheinbar hilflos in der Luft, dann wieder sieht man einen dieser urzeitlichen Baumstämme, wie er langsam aber sicher einen ganzen Zaun oder eine Mauer mit seinem wachsenden Stamm verschlingt. Kaum eine Straße, die keine Allee ist.

Auf der Praca Marrey Junior, dem Kreisel vor dem Stadion von Palmeiras, nahe Barra Funda, steht ein Banyanbaum. Ausladend und mächtig der Stamm, so dick, dass wahrscheinlich die gesamte Fußballmannschaft von Palmeiras São Paulo ihn nicht umarmen könnte. Ein einzelner Baum ist hier häufig ein ganzer Wald. Ein Biotop in sich. Es sieht aus, als stünde der Banyan schon ewig hier. Die Stadt erst allmählich darum gewachsen. Wahrscheinlich ist das sogar die Wahrheit.
Im Schatten seiner Krone, immer noch mitten auf dem Kreisel, auf den ersten Blick beinahe nicht zu erkennen, steht ein Zelt. Eine schwarze Plastikplane mit Stöcken stabilisiert, durch dünne Seile abgespannt, ein Stück Malerteppich auf dem Boden. Darum herum Baumstümpfe, Sitzgelegenheiten, Plastiktöpfe mit Palmen und Farnen darin, ein eigener Garten. Dazwischen ein Mobile aus CDs, und andere einfache Kunst. Man kann sich den Menschen vorstellen, der hier lebt. Ein Einsiedler, alt und grau, die Haare mit den Wurzeln des Banyans verflochten. Manchmal tritt er aus seinem Haus, schaut über die Straßen und Autos und wundert sich ob des Lärms, der hier entsteht.
Aber er erträgt es. Weil er weiß, dass auch das nur eine Phase ist. Und irgendwann die Stadt um seinen Baum vergangen sein wird.

Neben seinem Drang zum Leben scheint São Paulo ein Symbol für Vergänglichkeit. Überall stirbt und entsteht die Stadt immer wieder neu. Keine Straße gleicht der anderen, selbst wenn man sie kurz zuvor bereits gelaufen ist. Kunst ziert Wände und Mauern, gute Kunst, mit viel Mühe, keinen Schmierereien. Selbst an die Brückendecken haben sie Farbbeutel geschmissen. Im entschlossenen Versuch auch den letzten Funken Beton aus der Stadt verschwinden zu lassen.
Ich könnte wohl stundenlang durch die Straßen laufen, bis ans Ende der Stadt und zurück, und dann ein neues, vollkommen verwandeltes São Paulo wiederfinden.
Denn Sampa ist eine Wahnsinnige. Aufs gröbste heruntergebrochen machen zwei Zauber diese Stadt aus:
Man kann nie wissen, was hinter der nächsten kommt.
Es gibt verdammt viele Ecken.