6 – Belo Horizonte – An der Lagoa

An der Lagoa da Pampulha im Norden von Belo Horizonte kann man die Vögel singen hören. Hühner picken im Schatten der Mangabenbäume, nur sehr selten ist ein Hupen zu vernehmen. Manchmal hört man den Verkehr überhaupt nicht. Hin und wieder bellt ein Hund. Belo Horizonte é um ovo, sagen die Einwohner. Belo Horizonte ist ein Ei. Man kennt sich.
Als verschlafenes Nest präsentiert sich diese Stadt mit ihren zweieinhalb Millionen Einwohnern. Als man sich 1889 entschied, Ouro Preto, die alte Hauptstadt von Minas Gerais, abzusetzen und Belo Horizonte zum neuen Mittelpunkt des Landes zu machen, war die Stadt noch nicht viel mehr als ein Dorf. Und mit einem Mal die Hauptstadt einer Provinz, die beinahe so groß war wie Frankreich. Fast das gesamte Zentrum wurde von heute auf morgen am Reißbrett errichtet. Da wurden nicht nur einzelne Gebäude entworfen, da entstanden ganze Hochhauskomplexe aus dem Nichts. Straßenzüge, vollständige Viertel wurden binnen kürzester Zeit in die Landschaft gestampft.
Pampulha, mein Wohnort und Studentenstadtteil mit seinen Wohnheimen und der knapp 50 000 Studenten fassenden UFMG entstand 1943 als ein Projekt des damals aufstrebenden Nationalhelden Oscar Niemeyer. Seen, Kirchen, Avenidas, alles wurde in geordneten Strukturen angelegt. Hier, sagt man, übte Niemeyer für Brasilia. 

Das Zentrum des Stadtteils bildet die 18 km im Umfang messende Lagoa da Pampulha. Die Kronen der Palmen werfen Schatten auf das grüne Wasser, die Uferstraße ist von einem einer Rennradspur begleitet. Alles ist hier wohl geordnet, geformt und proportioniert. Der ganze Stadtteil ein Kunstwerk – und dadurch irgendwie künstlich.
Man kann sich dem Eindruck nicht erwehren, dass man Teil einer Kulisse ist. Der Vogel dort im Baum ist doch bloß Staffage! Es ist zu ordentlich hier, eine bisschen wie im Legoland. Nichts Unerwartetes wird hier passieren, nichts, was dem Heimweg von der Uni eine spannende Pointe verpassen könnte. Außer vielleicht einem Rudel Wasserschweine, das einem manchmal am Ufer der Lagoa in der Dunkelheit begegnen. 

An ihrem südlichen Ende stößt die Lagoa da Pampulha auf die Avenida Fleming. Hier gibt es Bars und Botecos, Fleisch und Pommes mit Käse überbacken, und Brasilianischen Country, weil das die Musik ist, die man hier hört. Sertanejo nennt sich das. Fernando und Sorocaba. Die Heiligtümer der Stadt sind Zuckerrohrschnaps und Käse. Caipiras, Bauern nennt man die Einwohner von BH in Sâo Paulo.
Unweit der Avenida Fleming liegt auf einer Anhöhe das Mineirão. Das Wahrzeichen, das Mahnmal der Stadt. Jeder Brasilianer kennt es. Vom 8. Juli 2014. Vom Halbfinalspiel zwischen Deutschland und Brasilien.
Wie ein gefallener Stern liegt es in der Landschaft. Das Mineiraço, diese unerklärliche Niederlage ist längst zu einem geflügelten Wort für alles Schlechte geworden, das einem hier passieren kann.
Aus den Lautsprechern an der asphaltierten Praça vor dem Stadion dringt traurige Cowboymusik. Irgendein Metallgerüst wird abgebaut oder aufgebaut, man weiß es nicht. Wie zum Hohn sitzen zwei Adler auf den steinernen Streben der Ränge. Es würde mich nicht wundern, säße hier noch immer einer im Brasilientrikot und wische sich die ungetrockneten Tränen aus dem Auge. Hier liegt das letzte große Trauma des Landes als offene Wunde auf einem Hügel. Vielleicht ist es deshalb so still hier. Man versucht zu hören, ob Gras über die Sache wächst.

Doch so übel ist das Leben gar nicht in Belo Horizonte. Man kann nachts sicher durch die Straßen wandern, man kann eine Straße überqueren, ohne Angst haben zu müssen, jeden Moment von einem Verrückten überfahren zu werden, es tun einem nicht die Ohren weh vom ständigen Lärm der Autos und Geschäfte, und es gibt einen Sternenhimmel, an dem nachts echte Sterne zu sehen sind!
Und wenn man abends hinaus in die Hügel von Mangabeiras fährt, dann versteht man warum die Stadt Belo Horizonte heißt. Und auch, warum das Land Minas Gerais. Alles wird fein und leise und die Landschaft unter einem ruht zufrieden in sich. Der Himmel streckt sich in alle Richtungen aus und legt sich müde über die Stadt. Wird erst rot und dann gelb und dann immer dunkler. Und schließlich, wenn der Himmel fast schwarz ist, offenbaren sich die glitzernden Stollen von Minas Gerais. Dann schimmert es von Topasen und Rubinen und Diamanten, und du kannst die Loren hören, die hier einst durch die Landschaft rollten.

Auf einem meiner Heimwege – ich hatte den Bus genommen, aber noch ein gutes Stück zu laufen – fuhr plötzlich ein Auto neben mir her. Es wurde langsamer und langsamer und hielt schließlich an. Ich dachte schon, jetzt sei der Moment gekommen, jetzt würde ich ausgeraubt und nackt nach Hause geschickt, das, wovor mich alle gewarnt hatten – doch der Fahrer lehnte sich nur aus dem Fenster, pfiff mich zu sich und fragte, ob alles in Ordnung sei. Ob er mich mitnehmen könne. Schließlich sei es dunkel und Nacht und ich brauche doch nicht zu laufen.
Am Ende lässt es sich hier wohl doch ganz gut leben. Der letzte Überfall vom dem ich hörte, trug sich im Vorfeld eines Konzerts zu. Ein Mann zog eine Pistole und forderte mit Nachdruck die vier T-Shirts seiner Opfer. Doch es war nicht nur das! Die T-Shirts dienten als Eintrittskarten für den Abend, eine kreative Idee der Veranstalter, Werbung zu für das Konzert von Fernando und Sorocaba zu machen!
Und natürlich ist so ein Überfall immer scheiße. Aber für Fernando und Sorocaba ist das ok.